Warum das Kreuz?

Die Geschichte der christlichen Erlösungslehre ist lang. Das Geschehen am Kreuz gleicht einem Edelstein, der verschiedene Facetten aufweist. Je nachdem, wie man ihn dreht, blitzt eine andere Seite auf, eine andere Metapher passt. Es gibt dazu sehr interessante Vorträge, wie z.B. den von Thorsten Dietz oder auch den Talk von Martin Benz und Andreas Loos. Aber bei allem guten Willen: Diese Vorträge lassen mich meist sehr verwirrt zurück. Die verschiedenen Metaphern scheinen sich zu widersprechen. Es bleibt der Eindruck haften, dass es «kompliziert» ist, und man das letztlich nicht verstehen kann. Das Kreuz soll wohl ein Mysterium bleiben. Auch Paulus sagt, dass die Botschaft vom Kreuz für die Völker «völliger Unsinn» (NGÜ) sei: Wir jedoch verkünden Christus, den gekreuzigten Messias. Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung und für die anderen Völker völliger Unsinn. 1. Korinther 1,23 Nun könnte man resignieren und die «Blackbox» Kreuz geschlossen lassen. Wir sind durch das Kreuz gerettet, basta! Wie das mit all den Zahnrädchen und Kolben im Innern genau funktioniert, müssen wir nicht wissen. Schliesslich sind wir durch Glaube gerettet, nicht durch Verstand. Das Kreuz ist das Herz des Christentums und zeigt auf eindrückliche Weise Gottes Liebe. Es wäre äusserst schade, wenn wir uns nicht mehr damit beschäftigen würden, nur weil es sich nicht gänzlich intellektuell erfassen lässt. Zudem kommen wir nicht darum herum, über das Kreuz zu sprechen, wenn wir mit anderen Menschen unseren Glauben teilen wollen. Und auch unser Herz braucht eine Vorstellung vom Kreuz, weil es für unsere Beziehung zu Gott zentral ist. Welches Gottesbild gewinnen wir daraus? Welche Facette dominiert in unserer Geschichte? Die Satisfaktionslehre Ein bis heute weit verbreitetes Verständnis des Kreuzes basiert auf der sogenannten Satisfaktionslehre. Die Satisfaktionslehre geht auf Anselm von Canterbury zurück, der von 1033 bis 1109 gelebt hat. Er überträgt dabei den Ehrbegriff einer mittelalterlichen Gesellschaft auf Gott, dessen Herrscher-Ehre durch unsere Sünde verletzt sei. Die Satisfaktionslehre lässt sich wie folgt zusammenfassen (Wikipedia): Die Sünde, eine unendliche Beleidigung Gottes, erforderte eine gleichermassen unendliche Satisfaktion (Genugtuung, Sühne, Tilgung). Kein endliches Wesen, Mensch oder Engel, konnte solch eine Satisfaktion leisten. Es war notwendig, dass ein unendliches Wesen, nämlich Gott selbst, den Platz des Menschen einnimmt. Dies wurde durch den Tod des Gottmenschen am Kreuz erfüllt. Durch den Tod Christi wurde der göttlichen Gerechtigkeit also vollkommen Genüge getan. Von daher war der Tod Christi nicht ein an den Teufel gezahltes Lösegeld, sondern eine an den Vater gezahlte Schuld. Diese Lehre ist mir sehr vertraut. Ich habe lange das Kreuz genau so verstanden. Heute habe ich allerdings einige Probleme damit. Ein Spruch, den ich auf einem T-Shirt entdeckt habe, bringt die Sache ziemlich treffend auf den Punkt: ATHEIST, because god sending himself to sacrifice himself to himself to save us from himself is a little bit much for any logical person. Die Satisfaktionslehre teilt die Personen des dreieinigen Gottes auf. Der Vater spielt eine komplett andere Rolle als der Sohn. Der Vater wird als zornig dargestellt. Am liebsten würde er die Menschheit vernichten. Hierzu passt die berühmt-berüchtigte Predigt von Jonathan Edwards “Sinners in the Hands of an Angry God” (Auszüge davon gibt’s hier). Der Sohn hingegen ist liebevoll und muss den Vater beschwichtigen, indem er sich bereit erklärt, die Strafe an unserer Stelle zu tragen. Es ist notwendig, dass jemand gefoltert und ermordet wird, um die Wut des Vaters zu beschwichtigen. Und wenn jemand diese Transaktion nicht für sich persönlich in Anspruch nimmt, wird er selbst in alle Ewigkeit gequält. Da kommt bei mir das alte, angsterfüllte Gottesbild wieder hoch. Wenn Gott tatsächlich so ist, werde ich im Himmel (falls ich es dahin schaffe) lieber mit Jesus rumhängen und dem Vater möglichst aus dem Weg gehen. Wer weiss, vielleicht ist der Vater immer noch leicht reizbar? Besser nicht darauf ankommen lassen! Er scheint zu allem fähig zu sein. Aber ist Gott wirklich so? Ich kann das nicht mehr glauben. Und wenn nicht: Wie kann man dann das Kreuz verstehen? Gott ist wie Jesus Mein Gottesbild orientiert sich vor allem anderen an Jesus. WWJD (What Would Jesus Do?) ist eine sehr berechtigte Frage. Der Vater und der Sohn sind nicht zwei völlig unterschiedliche Charaktere. Jesus macht klar, dass er nichts von sich aus tut, sondern nur, was er den Vater tun sieht (Johannes 5, 19). Und wer Jesus sieht, sieht den, der ihn gesandt hat: den Vater (Johannes 12,45, Johannes 14,8-10). An anderer Stelle wird Jesus noch deutlicher: “Ich und der Vater sind eins.” (Johannes 10,30). Bei der Verklärung Jesu (Matth. 7, 1-13) bestätigt der Vater dies und legt sein Heilspojekt mit den Menschen in Jesu Hände: “Dies ist mein geliebter Sohn. An ihm habe ich Freude, und auf ihn sollt ihr hören!”. Der Vater macht klar, wer für ihn sprechen darf. Jesus steht auch nicht einfach gleichberechtigt neben dem Gesetz und den Propheten. Nein, Jesus erfüllt das Gesetz. Er ist das Ziel, auf welches Mose und Elia hingewiesen haben. Wie ging Jesus mit Sündern um? Entgegen den Regeln der Schriftgelehrten hat er sich ihnen zugewandt, mit ihnen gegessen, sie ernst genommen. Er war barmherzig, hat ihre Sünden vergeben und sie geheilt. Er hat die Armen und Schwachen selig gepriesen. Genau so ist auch der Vater! Und wie beschreibt Jesus selbst den Vater? Am eindrücklichsten tut er dies im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11-32). Noch bevor der Sohn dem Vater sagen kann wie leid ihm alles tut, läuft ihm der Vater entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Was ich eben beschrieben habe ist nichts Neues, sondern gute, etablierte, unumstrittene christliche Lehre. Nur wenn es um das Kreuz geht, scheinen viele Christen das liebevolle Vaterbild gegen einen zornigen, vergeltenden Gott auszutauschen. Können wir uns vorstellen, dass der Vater zum verlorenen Sohn sagt: “Nun, Bürschchen, schön, dass du endlich zur Vernunft kommst. Jetzt muss ich dich aber erst noch auspeitschen, als gerechte Strafe für das was du getan hast. Ich kann dir nicht einfach so vergeben. Sonst spricht sich das rum und es handelt am Ende jeder so. Ich will dich aber verschonen und dafür deinen älteren Bruder bestrafen!” Aber Gott ist auch gerecht! Nun hört man oft den Einwand: “Aber Gott ist nicht nur liebevoll, er ist auch gerecht!”. Doch wie verstehen wir eigentlich Gerechtigkeit? Die römische Göttin Justitia Die meisten denken bei Gerechtigkeit an die Justiz und ihre Symbolfigur, die römische Göttin Justitia: Justitia trägt eine Augenbinde, da sie unparteiisch ist. Sie sieht die Person nicht an. Mit der Waage prüft und beurteilt sie den Sachverhalt objektiv und legt eine Strafe fest. Das Schwert schliesslich steht für ihre strafende Macht. Gerechtigkeit wird hier also durch eine “gerechte” Strafe hergestellt, was perfekt zur Satisfaktionslehre passt: Gerechtigkeit nach Justitia:Fehler → Schuld → Gericht → Strafe → Sühnung Das Gerechtigkeitsverständnis der Bibel ist anders. Das hebräische Wort für Gerechtigkeit lautet “zedaka” und kommt an ca. 500 Stellen im AT vor. In der überwältigenden Mehrheit der Fälle wird diese Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit, Güte, Gnade, Treue, Rettung, Jubel oder auch Freude im gleichen Atemzug genannt. Unter Gerechtigkeit versteht die Bibel ein barmherziges, fürsorgliches Handeln, welches zurück in die Gemeinschaft führt. Die Gerechtigkeit Gottes zielt nicht auf Strafe, sondern auf Wiederherstellung! Gerechtigkeit in der Bibel (Zedaka):Fehler → Schuld → Umkehr → Gnade → Rettung → Wiederherstellung Darum ist Gottes Gerechtigkeit auch kein Widerspruch zu seiner Liebe. Im Gegenteil: Die barmherzige, rettende Gerechtigkeit Gottes ist eine Form seiner Liebe. Gerechtigkeit und Recht sind die Säulen deiner Herrschaft; alles, was du tust, zeigt deine Liebe und Treue. Psalm 89,15 Mehr zu diesem Thema gibt es z.B. in David Grebaschs Predigt: “Was ist Gerechtigkeit? – Eine Grundfrage der Menschheit” (MP3, Folien, Predigttext) Manuel Beckers Artikel über die Wiederentdeckung einer biblischen Sichtweise von Gottes Gerechtigkeit Worthaus 5.11.1 (Siegfried Zimmer) Ich möchte damit nicht sagen, dass es kein Gericht geben wird. Die klare Feststellung von Schuld ist enorm wichtig. All die Vergewaltigten, Misshandelten, Gefolterten und Ermordeten dieser Welt werden einmal im Weltgericht gehört werden. Die Schuld wird nicht einfach unter den Teppich gekehrt oder verhamlost werden. Aber ich glaube, Jahweh wird mit dieser Schuld anders umgehen als die römische Göttin Justitia! Ich glaube auch, dass es ein Feuer geben wird: Das Feuer der Liebe Gottes. Das wird kein Spaziergang werden. Selbst Heilige berichten davon, wie die durchdringende Liebe Gottes und sein heiliger Blick unerträglich sein können. Nicht weil es eine Strafe wäre, sondern weil die damit verbundene Selbsterkenntnis und die klare Sicht auf die Folgen unserer Taten so schmerzhaft sind. Was ist rechtes Vergelten? In der Bibel sehen wir eine Entwicklung der Vorstellung von “gerechtem” Vergelten: Prinzip Stellen Überproportionales Vergelten Kain soll siebenfach gerächt werden (1. Mose 4,15)Lamech soll siebenundsiebzig mal gerächt werden (1. Mose 4,24)Für eine Vergewaltigung wird eine ganze Stadt ausgelöscht (1. Mose, 34,25-31) Auge um Auge 2. Mose 21, 23-255. Mose 19, 21 Feindesliebe, die andere Wange hinhalten Bergpredigt (Matth. 5, 38-48) Vergeltungsprinzipien in der Bibel Das ursprünglich überproportionale Vergelten wurde durch das “Auge um Auge” auf ein gleiches Vergelten beschränkt. Jesus geht in der Bergpredigt allerdings noch einen Schritt weiter: Ihr wisst, dass es heisst: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Ich aber sage euch: Setzt euch nicht zur Wehr gegen den, der euch etwas Böses antut. Im Gegenteil: Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin. Matth. 5, 38-39 Wenn wir weiterlesen gibt Jesus auch den Grund an, warum wir unsere Feinde lieben sollen: Wir sollen vollkommen sein, wie unser Vater im Himmel vollkommen ist! (Matth. 5, 46-48). Wir sollen uns also am Vater ein Vorbild nehmen, indem wir nicht mehr vergelten! Im Gegenteil: Statt zu vergelten, sollen wir lieben. Und Gott predigt nicht Wasser und trinkt selbst Wein. Er macht es uns vor. Jesus selbst geht diesen Weg bis zum bitteren Ende, wenn er am Kreuz noch um Vergebung für seine Peiniger bittet (Lukas 23,34). In welches Vergeltungsschema passt die Satisfaktionslehre, mit ihrer Forderung einer unendlichen Satisfaktion für die Sünde des Menschen? Das klingt sehr nach überproportionalem Vergelten. Man könnte argumentieren, dass die Sünde des Menschen bereits unendlich war und es sich demnach um das Schema “Auge um Auge” handelt. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie die Sünde eines endlichen Wesens in einer endlichen Zeit unendlich sein kann? Gott der Vater fordert von uns also die höchste Ethik der Feindesliebe, mit der Begründung, dass er selbst danach lebe. Dann aber, wenn es um unsere Sünden geht, soll er auf eine “Auge um Auge”-Vergeltungsethik zurückfallen? Das wäre für mich tatsächlich ein krasser Widerspruch! Das Opfer Die Satisfaktionslehre hängt eng zusammen mit der Interpretation von Jesu Tod als Sühneopfer, wie wir sie z.B. in Römer 3, 25-26 finden: Ihn hat Gott vor den Augen aller Welt zum Sühneopfer für unsere Schuld gemacht. Durch sein Blut, das er vergossen hat, ist die Sühne geschehen, und durch den Glauben kommt sie uns zugute. Damit hat Gott unter Beweis gestellt, dass er gerecht gehandelt hatte, als er die bis dahin begangenen Verfehlungen der Menschen ungestraft liess. Wenn er Nachsicht übte, geschah das im Hinblick auf das Sühneopfer Jesu. Römer 3, 25-26 (NGÜ) Der Begriff “Sühneopfer” in Römer 3,25 wird von anderen Übersetzungen mit “Sühneort”, “Sühnedeckel” (Elberfelder) oder “Gnadenstuhl” (Luther) übersetzt. Damit ist der Deckel der Bundeslade gemeint. Andere übersetzen, dass mit Jesus “Sühne geschaffen sei” (Zürcher Bibel). Das Sühneopfer von Jesus wird als logische Fortsetzung der Opfer im alten Testament gesehen. Jesus erfüllt sozusagen das Gesetz, in dem er das letzte und vollkommene Opfer vollbringt. Aber lässt sich diese Verbindung so einfach ziehen? Pfarrer Michael Rau legt in seinem Artikel “Im Blut ist das Leben!” dar, dass den Opferriten im AT kein Sühneverständnis zugrunde lag. Das hebräische Wort kippär, welches auf deutsch mit “Sühne / sühnen” übersetzt wird, bedeutet eigentlich “bedecken”. Unsere Schuld wird zugedeckt, nicht abgegolten. Zudem ist das Blut nicht ein Symbol für den Tod, sondern im Blut ist das Leben (5. Mose, 12,23). Im Blut ist in “gewisser Weise Gott selbst zur Stelle.” Vermittelt durch das Blut können wir wieder in die Gegenwart Gottes und seine Heiligkeit kommen. Die Vergebung der Schuld basiert also vielmehr auf dem Kontakt mit der Heiligkeit Gottes, wodurch die … Warum das Kreuz? weiterlesen