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Geistliche Befreiung von digitaler Zerstreuung

Im Juni 2020 erscheint das neue Buch von Ed Cyzewski: Reconnect – Spiritual Restoration from Digital Distraction. Ed Cyzewski ist ein amerikanischer christlicher Autor, der im deutschsprachigen Raum bisher leider wenig bekannt ist. In “Flee, Be Silent, Pray” beschreibt er, wie das kontemplative Beten ihn weg von einem Angst-bestimmten Glauben hin zu einer liebevollen Beziehung zu Gott geführt hat. Das erinnert mich stark an meine eigene Geschichte. Ich durfte bereits einen Blick auf sein neues Buch “Reconnect” werfen. Es handelt davon, wie das Smartphone, moderne Medien und soziale Netze unser Verhalten beeinflussen und welche Auswirkungen das auf unser geistliches Leben haben kann.

Gefangen im sozialen Netz

“Alle Mittel unserer schon fast übernatürlichen Technik werden heute im Generalangriff auf das Schweigen eingesetzt.” Dieses Zitat stammt von Aldous Huxley. Er hat das 1944 in seinem Buch “Die ewige Philosophie” geschrieben. Heute können wir über die “fast übernatürliche Technik” von damals nur müde lächeln. Huxley kannte kein Internet, kein Smartphone, kein Facebook, kein Instagram und kein Netflix! Wenn das damals ein erster Angriff war, so befinden wir uns heute im globalen Krieg gegen das Schweigen.

Eine fast übernatürliche Technik

Cyzewski vergleicht uns mit Heroinsüchtigen. Die Drogendealer des Silicon Valleys setzen alles daran, uns nach ihren Plattformen im wahrsten Sinn des Wortes süchtig zu machen. Benachrichtigungen, rote Symbole, die durch klicken verschwinden, Likes und Kommentare zielen darauf, das “Glückshormon” Dopamin in unserem Gehirn freizusetzen. Wenn unser Gehirn lernt, dass diese Klicks uns “glücklich” machen, entsteht ein Sucht erzeugender Feedback-Loop. Softwareentwickler, Psychologen und User Experience Designer arbeiten gezielt daran, ihre Apps unwiderstehlich zu machen:

Behind every screen on your phone, there are literally a thousand engineers that have worked on this thing to try to make it maximally addicting.

Aza Raskin, der Erfinder des “Infinite Scrolling” Features.

Wir sollten uns daran erinnern, dass wir nicht etwa die Kunden von Google, Facebook und Twitter sind, sondern ihr Produkt. Diese Konzerne verdienen ihr Geld mit Werbung. Ihre eigentlichen Kunden sind die Firmen, welche für diese Werbung bezahlen. Und sie kaufen damit eine optimal auf die Zielgruppe abgestimmte Platzierung ihrer Werbung. Damit diese Abstimmung funktioniert, sind die Plattformen auf möglichst viele Informationen über uns angewiesen. Diese Informationen stammen aus vergangenen Suchanfragen, unserem Benutzerprofil, unseren Posts und unseren Reaktionen auf Inhalte. Die Netzwerke sind geschickt getarnte Köder, die wir nur zu gerne schlucken.

Das höchste Ziel des Silicon Valleys ist, uns online zu halten. Wir sollen länger und mehr mit den Plattformen interagieren. Das “Engagement” muss erhöht werden. Damit lernen sie mehr über uns und können uns mehr Werbung zeigen, an der sie verdienen. Praktischerweise tragen wir auf dem Smartphone die Plattformen ständig mit uns rum. Wir können innert Sekunden auf jede Benachrichtigung reagieren.

Algorithmen füllen unsere Timelines dauernd mit neuen massgeschneiderten Schlagzeilen. Extreme Inhalte, die polarisieren und Konflikte verursachen, führen zu einem sehr hohen Engagement. Deshalb werden uns bevorzugt solche Inhalte präsentiert. Der Wahrheitsgehalt ist zweitrangig, was die Verbreitung von “Fake News” befeuert. Wir lesen einen reisserischen Titel und sind entsetzt – “Das kann doch nicht wahr sein!!?” – und schon haben wir einmal mehr geklickt und sind weiter gefesselt. Vielleicht machen wir unserem Ärger auch gleich Luft und hinterlassen einen gepfefferten Kommentar, was die Spirale der Polarisierung weitertreibt. Wer ausgewogene, nüchterne und differenzierte Analysen präferiert, sollte besser nicht in sozialen Medien suchen.

Everywhere you turn on the internet there´s basically a supercomputer pointing at your brain, playing chess against your mind, and it´s going to win a lot more often than not.

Yuval Noah Harari and Tristan Harris, “When Tech Knows You Better Than You Know Yourself”, Wired, October 4, 2018

Die negativen Folgen

Was sind die Früchte sozialer Medien in unserem Alltag? Vor einigen Jahren habe ich meinen Facebook Account geschlossen. Ich war frustriert darüber, dass ich immer viel Zeit damit verbrachte. Gleichzeitig fühlte ich mich nach diesen Zeiten oft aufgewühlt, zerstreut und voller Gedanken. Das vermeintliche Glück, mit meinen “Freunden” verbunden zu sein, fehlte. Im Gegenteil: das Bestaunen all dieser hoch polierten Profile, Urlaubsfotos und kreativen Ideen hinterliess in mir das Gefühl, etwas zu verpassen. Mein Profil war langweilig. Hiess das vielleicht, dass auch mein Leben langweilig war? Und plötzlich spürte ich das Verlangen danach, meine Timeline aufzupeppen. Mich darzustellen. Schöne Fotos zu inszenieren, damit andere sehen können wie viel Spass ich habe. Doch das wollte ich nicht. Es geht nicht darum, ein Theater aufzuführen und etwas darzustellen, das wir nicht sind.

Thomas Merton spricht genau davon, wenn er den Begriff “false self” benutzt. Das “falsche ich” beschreibt unser irdisches Ich, unser Ego, das sich gerne in den Mittelpunkt stellt. Das Ego hat gerne die Kontrolle, sonnt sich in Anerkennung und versucht Sicherheit für unseren Selbstwert herzustellen. Soziale Netzwerke sind wie Steroide für das falsche Ich. Es kriegt eine Bühne mit Flutlicht, Soundeffekten und globaler Medienpräsenz. Entsprechend reisst es auch das Ruder an sich und übernimmt die Führung. Wenn es dann Bewunderung für seine Aktionen kriegt, spielt es sich auf und flüstert uns zu: “Siehst du, endlich lieben dich alle. Du bist toll! Vertrau mir.”

Soziale Netzwerke sprechen unsere eigentlich guten Bedürfnisse nach Verbindung, Beziehung und persönlichem Ausdruck an. Aber statt sie nachhaltig zu erfüllen, führen sie zu negativen Gefühlen, zu Angst, Depression, ja sogar zu Suizid. Gerade Teenager, die in ihrer Identität noch nicht gefestigt sind, laufen Gefahr, alles auf die digitale Karte zu setzen. Das Selbstbewusstsein zieht seine Nahrung aus den Likes der Peer-Group. Sollte der digitale Aufmerksamkeitsstrom jedoch abreissen oder sich gar ins Gegenteil kehren, dann zerbricht nicht nur ein Facebook-Profil, sondern alles was daran gekettet ist. Mitunter ein ganzes Herz.

Depression, anxiety, and suicide rates among teens and young adults bumped up noticeably once smartphones, tablets, and social media began to be integrated into childhood.

Jean M. Twenge, “Have Smartphones Destroyed a Generation?”

Damit wir bei Laune bleiben, trainieren uns die sozialen Netze darauf, permanente Stimulation zu suchen. Tweets sind praktischerweise so kurz, dass wir mit 5-10 Sekunden Aufmerksamkeit pro Text auskommen. Damit keine Langeweile aufkommt, folgt gleich der nächste Stimulus. Endlos geht das so weiter. Wir üben uns dabei in Oberflächlichkeit und Ungeduld. Wenn die Spannung mal absackt suchen wir schnell den nächsten Dopamin-Kick. Wenden wir uns ab, bleibt ein pulsierender Nebel von Gedankenfetzen übrig, der uns wie eine Smog-Glocke umgibt. Durch Benachrichtigungen, die uns akustisch oder mittels Vibration unterbrechen, lockt uns das Smartphone ständig in den Strom zurück. Mit der Zeit verlieren wir das Interesse an Gedanken die Zeit brauchen, kein Dopamin ausschütten, tiefer gehen, viele Facetten aufweisen und mit Arbeit verbunden sind.

Our devices and social media have the power to shape us into a particular kind of people: distracted by many thoughts, reactive, compulsive, and impatient.

Ed Cyzewski, “Reconnect”

Eine weitere Nebenwirkung digitaler Beziehungspflege ist die mangelnde Tiefe. Echter nicht-digitaler Kontakt lebt von investierter Zeit, einer Atmosphäre, Augenkontakt, einem Gesichtsausdruck, dem Klang einer Stimme, der Körperhaltung. Wir können Menschen wahrnehmen wie sie sind, nicht wie sie sich darstellen möchten. Wie wollen wir unsere Beziehungsenergie investieren: Gezielt in einige wichtige Beziehungen? Oder tröpfchenweise per Giesskanne an 300 Freunde verteilt?

Geistliche Entwicklung als Gegenpol

Die geistliche Entwicklung eines Menschen ist ein Gegenpol zur digitalen Zerstreuung. In der geistlichen Dimension zählt die Stille und nicht der Lärm. Gedanken werden losgelassen, nicht gesucht. Es zählt das Innere und nicht das Äussere, das Ewige und nicht das Zeitliche, das Wesentliche und nicht das Oberflächliche. Es zählt das Gegenüber und nicht ein Bildnis davon. Anders als das falsche Ich lebt unser wahres Ich in der Tiefe unserer Seele in der Nähe Gottes:

Our external, everyday self is to a great extent a mask and fabrication. It is not our true self. And indeed our true self is not easy to find. It is hidden in obscurity and ´nothingness´, at the center where we are in direct dependence on God.

Thomas Merton

Das wahre Ich lebt in der Abhängigkeit von Gott allein. Alles Zeitliche ist vergänglich. Die falschen Sicherheiten, die vermeintliche Kontrolle, die Anerkennung der anderen und der Genuss dieser Welt wird vergehen. Gott ist die wahre Quelle, die lebendiges Wasser für uns bereithält.

The more we fill our days with the parade of images and videos on social media, the less likely we are to turn to god for our affirmation, identity, and security.

Ed Cyzewski, “Reconnect”

Wie sollen wir nun über die digitalen Medien sprechen? Ist das Geistliche ein schwaches Pflänzchen, welches von den Timelines platt gewalzt wird? Ich denke, das kann durchaus der Fall sein, wenn das Pflänzchen noch jung und zart ist. Wie im Gleichnis des Sämanns müssen wir darauf achten, dass der Same auf guten Boden fällt, Nahrung erhält, und nicht von Sorgen, Begierden (und Ablenkung) überwuchert wird.

If smartphones and social media ensure that we never have to wait in boredom, that we can always find a source of stimulation, and that we never have to be alone with our thoughts, we are training ourselves to fail in spiritual formation. In fact, our devices are stealing an important element of a typical prayer experience.

Ed Cyzewski, “Reconnect”

Hat der Same aber Wurzeln geschlagen und ist die Pflanze gewachsen, so kann ein grosser starker Baum entstehen, der den Vögeln des Himmels Schutz bietet. Man kann also beides zu Recht sagen:

  • Die digitale Zerstreuung gefährdet unser geistliches Wachstum.
  • Geistliche Entwicklung macht uns widerstandsfähig, damit wir der digitalen Zerstreuung nicht mehr schutzlos ausgeliefert sind.

Alles hängt davon ab, welchen Baum wir wässern und womit wir den Acker unseres Herzens besäen. Wir können uns durch spirituelle Übungen, wie z.B. das kontemplative Gebet, auf Gottes Stimme einstellen. Mit der Zeit werden wir nicht mehr nach Ablenkung verlangen, sondern nach Stille! Der Lärm und die Oberflächlichkeit wird uns abstossen.

While digital technology trains us to crave stimulation, distraction, and emontional highs, spiritual practice such as contemplation can train us to crave silence and presence instead.

Ed Cyzewski, “Reconnect”

Tipps für den Alltag

Das Smartphone und die sozialen Netzwerke sind nicht einfach des Teufels. Man kann sie, wie die meiste Technologie, zu vielerlei Gutem nutzen. Wie bereits dargelegt, ist allerdings grosse Vorsicht geboten, dass wir uns dabei nicht in Abhängigkeit begeben. Damit wir überhaupt einen Unterschied zwischen online und offline Leben ausmachen können und uns schliesslich zu mehr offline hingezogen fühlen können, sind Zeiten der Abstinenz unumgänglich.

Der Begriff Digital Detox hat sich auch im Geschäftsleben etabliert. Man hat erkannt, dass bei zu viel digitalem Stress die Leistungsfähigkeit nachlässt und Burnouts drohen. Es gibt viele Möglichkeiten, digital zu entgiften. Im Internet und in Buchhandlungen (ja, physischen!) finden sich viele Ratgeber dazu. Ed Cyzewski gibt auch einige Anstösse dazu in seinem Buch. Was für einen persönlich funktioniert muss man selbst herausfinden. Wer nicht radikal aus den sozialen Netzen austreten möchte, kann sich überlegen vielleicht sein Smartphone von den entsprechenden Apps zu befreien. Oder mittels Timetracker App eine tägliche Zeitlimite dafür festzulegen. Vielleicht funktioniert auch eine Begrenzung auf 1-2 “Social Media” Zeitfenster pro Tag? Ein Tipp, falls man für Notfälle erreichbar bleiben möchte, aber nicht durch E-Mails und Benachrichtigungen abgelenkt werden möchte:

  • WLAN ausschalten
  • “Mobile Daten” ausschalten

Damit wird aus dem Smartphone ein gutes altes Dumbphone. Man kann telefonieren, und wenn es sein muss, SMS schreiben. Alles andere, inklusive E-Mails, surfen, Whatsapp und die Social Media Apps, sind stumm geschaltet.

Kontrollierte Nutzung alleine reicht aber nicht aus. Man braucht auch eine positive Gegenkraft. Am besten richtet man eine regelmässige Praxis der Stille in seinem Alltag ein. Leider braucht dies Geduld. Bäume wachsen nicht von heute auf morgen in den Himmel. Ich finde hierfür die Übungen des kontemplativen Gebets, wie z.B. das Ruhegebet oder das Centering Prayer, perfekt. Man richtet sich damit regelmässige Inseln der Stille im Alltag ein, welche ein wirksames Antiserum gegen digitalen Stress sind.

If we aren´t oriented around something better, digital formation will win hands down.

Ed Cyzewski, “Reconnect”

Besonders herausfordernd ist die Situation für Kirchen, welche unter Zugzwang stehen, eine #digitaleKirche umzusetzen. Wie sollen die Jungen ohne Internet erreicht werden? Hier ist Weisheit gefragt und ein Balanceakt zwischen digitaler Präsenz und spiritueller Tiefe. Man darf die Lebendigkeit einer Kirche nicht plötzlich an der Zahl ihrer Follower bemessen.

Churches who invest in social media will need to ask whether they are about spiritual formation in a beloved community or the digital conversion of an audience into fans.

Ed Cyzewski, “Reconnect”

Ich fand das Buch sehr spannend und empfehle es gerne weiter. Gerade wer sich zur Stille hingezogen fühlt, sollte wissen wie konträr die digitale zur geistlichen Entwicklung verläuft. Man sollte das nicht auf die leichte Schulter nehmen, da die Gravitationskräfte der digitalen Zerstreuung äusserst stark sind. Aber wir müssen auch nicht verzweifeln. Gottes Kraft in uns ist stärker. Die Befreiung wird uns von Gott geschenkt. Wir müssen bloss Raum dafür schaffen.

Zum Abschluss drei einfache Ratschläge, durch die Ed Cyzewski sein Buch zusammenfasst:

Schütze deine Zeit.
Bevorzuge persönliche Interaktionen.
Erfrische deinen Geist täglich mit Stille.


PS: Wasser predigen und Wein trinken?

Bis vor kurzem fand man die üblichen Icons der grossen sozialen Netzwerke auch unter meinen Artikeln. Mit einem einfachen Klick konnte man sie teilen. Ich habe diese Share-Buttons nun entfernt. Die Ruhe nach dem Lesen eines Artikels soll einen Moment ungestört sein dürfen, ohne dass man gleich wieder auf eine Timeline umgelenkt wird. Wenn jemand meine Artikel teilen möchte, dann freut mich das natürlich! Das ist jederzeit möglich, indem man einfach die Adresse der Seite aus der Adressleiste des Browsers kopiert und in einen Post einfügt.

Ironischerweise hab ich begonnen Twitter zu nutzen, als ich mit Wider & Deeper startete. Es ging hauptsächlich darum, den Blog überhaupt irgendwo auffindbar zu machen. Mittlerweile schätze ich die Möglichkeit, auch “exotische” geistliche Themen diskutieren zu können. In meinem persönlichen Umfeld fehlt mir dazu oft die Möglichkeit. Manchmal wird mir auch ein Gedanke wichtig, ohne dass ich gleich einen ganzen Blogartikel dazu schreiben kann. Twitter ist dann eine einfache Möglichkeit dies zu teilen.