
Gott 9.0: Bugs und Features
Gott 9.0 von Marion Küstenmacher, Tilman Haberer und Werner Tiki Küstenmacher ist umstritten. Die einen sind von dem Buch begeistert, die anderen sprechen von Irrlehre. Gott 9.0 vergleicht unser Gottesbild mit einer Software, die auch mal ein Update kriegen kann. Wie jede Software hat aber auch dieses Buch Bugs und Features. Dieser Blog ist ein Versuch, diese Bugs und Features differenziert zu betrachten.
Übersicht über die Stufen
Die Autoren gehen davon aus, dass sich unser Bewusstsein entlang von Stufen ein Leben lang weiterentwickelt. Diese Stufen bestimmen massgeblich wie wir die Welt, die Gesellschaft, andere Menschen, aber auch Gott und den Glauben sehen. Auch ein Kollektiv, z.B. eine Kirchgemeinde, ein Verein, oder eine Nation, kann schwerpunktmässig auf einer Stufe stehen, abhängig davon wo sich die Mitglieder befinden.
Die folgende Tabelle gibt einen kurzen Überblick über die Stufen (Version 1.0 bis 9.0) und das jeweilige Gottesbild. Eine detailliertere Beschreibung findet man auf gott90.de.
Stufe/Farbe – Thema | Motto | Gottesbild |
---|---|---|
1.0 Beige – Existieren | Irgendwie den Tag überstehen | Mutterbrust, Nahrung, “grosse Hand” |
2.0 Purpur – Sicherheit | Überall Stimmen, Geister, Monster, Engel: “Es gibt keine Zufälle” | Geister, Monster, Dämonen, Totenreich der Ahnen, Jenseits, Stammesgötter (Gott Abrahams, etc.) |
3.0 Rot – Macht | Das Recht des Stärkeren ausüben: “Ich will alles und zwar jetzt” | Machtgötter, Kriegsgott Jahwe, Vernichter der Feinde |
4.0 Blau – Wahrheit | Die ganze Welt ehrt den Allmächtigen: “Ich gehorche seinem Gesetz” | Einziger Gott und Schöpfer, unsichtbarer Allmächtiger, Gottvater als Erzieher, Geber des Gesetzes, Richter |
5.0 Orange – Freiheit | Das Leben effizient organisieren: “Ich strebe maximalen Erfolg an” | Verlorener oder toter Gott, verborgener Gott, persönlicher Gott (ausserhalb der Kirche); apersonaler Gott: das Umgreifende (was den Menschen unbedingt angeht), Geheimnis des Lebens, Urgrund des Seins, Tiefe |
6.0 Grün – Verbundenheit | Das Leben einfühlsam gestalten, alle einbinden und versorgen: “Ich fühle mich ein” | Freund der Menschen, barmherziger und mütterlicher Gott, Gott als Liebe, Gott in allen Religionen |
7.0 Gelb – Zusammenschau | Widersprüchliche Ansätze nutzbringend einbeziehen: “Ich erkenne die Struktur im Chaos” | Paradoxes trinitarisches Gottesbild, Koinhärenz von Mensch und Gott |
8.0 Türkis – Universalität | Dem Überleben des Lebens dienen: “Ich wirke für die Menschheit und darüber hinaus” | Gott als GEIST, pulsierender Prozess, zärtlicher Poet der Welt, Netz der Verwobenheit mit allem, All-Raum, göttliches Milieu |
9.0 Koralle | Noch unbekannte nächste Stufe, der weitere folgen können | Gott als Werdenkönnen |
Bugs
Gott 9.0 polarisiert. Knapp dreiviertel der Reviews auf Amazon geben 4 oder 5 Sterne. Es gibt jedoch auch heftige Kritik, die kein gutes Haar am Buch lässt und eindringlich vor Irrlehre warnt. Stellvertretend seien hier die negativen Kritiken von Falko Hornschuch und Johannes Hartl aufgeführt:
- Falko Hornschuch (verlinktes PDF öffnen): https://theoblog.de/gott-9-0/15171/
- Johannes Hartl: Ken Wilber – (misslungener) Versuch einer Übersetzung ins Christliche
Johannes Hartl spricht von “plattem New Age” und einer “buddhistisch angehauchten All-Einheitsspiritualität”. Falko Hornschuch nennt das Buch ein “blasphemisches, anderes Evangelium, welches Menschen verführt.”
Aus Perspektive des Buches ist die Heftigkeit der Kritik wohl auf den Konflikt zwischen BLAU und ORANGE zurückzuführen. Es ist zu erwarten, dass die Relativierung des einzig wahren BLAUEN Gottesbildes von dessen Vertretern vehement bekämpft wird.
Fehlende Wissenschaftlichkeit
Ein ernstzunehmender Kritikpunkt betrifft die mangelnde Wissenschaftlichkeit des vorgeschlagenen Erklärmodells. Gott 9.0 versteht sich selbst nicht als wissenschaftliches Werk, sondern ist in populärwissenschaftlichem Stil für jedermann spannend geschrieben. Dennoch ist die Frage erlaubt, ob die portierten Modelle wissenschaftlich erhärtet sind. Die Theorien für das zugrundeliegende Konzept Spiral Dynamics wurden in den 1950er Jahren vom amerikanischen Psychologieprofessor Clare Graves erforscht. Das Stufenmodell wurde ursprünglich für betriebswirtschaftliche Zwecke entwickelt und dann auch auf anderen Gebieten adaptiert. Ein Beispiel ist Ken Wilber, der das Modell in seine “integrale Theorie” der Spiritualität eingebaut hat. Wilbers Arbeit “erreicht jedoch die jeweiligen Fachwissenschaften kaum” (Wikipedia). Das Buch Gott 9.0 ist wiederum eine Anwendung von Wilbers Theorien auf das Christentum. Entsprechend voller Lob ist Wilbers Klappentext auf der Rückseite des Buchs.
Graves konnte offenbar lediglich 60% der untersuchten Fälle eindeutig seinen Stufen zuordnen (Siehe Artikel von Falko Hornschuch). Eine empirische Validierung des Modells bei der Übertragung auf andere Kulturen und Gebiete (Spiritualität, Christentum) blieb offenbar weitgehend aus. Welche Aussagekraft das Modell in Gott 9.0 gemessen an der Realität tatsächlich hat, ist unklar.
Related Work
Eine kritische Diskussion des Modells fehlt gänzlich. Welche anderen konkurrierenden Modelle für kulturelle und spirituelle Entwicklung gibt es? Könnten jene die Realität ev. besser erklären? Was ist der Zusammenhang zu spirituellen Typologien wie z.B. dem Enneagramm? Ohne ein Enneagramm-Experte zu sein, ergeben sich für mich auf den ersten Blick schon einige Überlappungen. Typ 8 (“Der Boss”) gehört klar auf Stufe ROT, Typ 5 (“Der Denker”) passt zur Stufe ORANGE, Typ 1 auf Stufe BLAU, etc. Zu welchem Anteil ist meine Stufe durch meine Persönlichkeit bestimmt und nicht durch den evolutionären Gang der Welt?
Absolutheitsanspruch
Der Anspruch des Buchs ist schwindelerregend hoch. Es etabliert sich quasi als absoluter Massstab für jegliche religiösen Systeme, Texte, Gedanken und Gefühle. “Du hast einen heiligen Text?” Gott 9.0 sagt dir was davon zu halten ist und ob es ein primitiver oder ein hoch entwickelter Text ist. Zeig mir deinen Gott und ich sage dir wie modern du bist. “Dein Pastor ist noch sehr BLAU?” Kein Wunder verstehst du dich nicht mit ihm. Auch wenn immer wieder betont wird, dass tiefere Stufen nicht schlechter seien als höhere, so ist doch klar, dass die höheren Stufen einer Weiterentwicklung entsprechen. Sie inkludieren und “transzendieren” die unteren Stufen. Wer höher gekommen ist, hat das Deutungsrecht für das, was auf den unteren Stufen geschieht.
Gott 9.0 – und damit Ken Wilbers Sicht – tritt an oberste Stelle. Das Modell steht faktisch sogar über Gott, denn jeder Gottesbegriff ist schliesslich ein Konstrukt und relativ. Die integrale Theorie dagegen steht auf Fels, bzw. wird selbst nicht hinterfragt.
Rationale Erklärung für Transrationales
Spiral Dynamics ist ein rationales Modell, welche über nicht-rationale Phänomene spricht. Diese inhärente Beschränktheit des Modells verträgt sich sehr schlecht mit dessen Absolutheitsanspruch. Gott 9.0 wird viele Fans auf Stufe ORANGE haben, weil das eben diejenige Stufe ist, die sich für logische Welterklärungen begeistert.
Im Kapitel über Zustände wird von diesen vier verschiedenen Versenkungsgraden gesprochen:
- Grobstofflich (Achtsamkeit)
- Feinstofflich (Meditation)
- Formlos (Kontemplation)
- Nonduale Einheit (Verklärung)
Diese Zustände seien unabhängig von den neun Stufen. Die Darstellung der Stufen und Zustände in einer Matrix führt zur sogenannten Wilber-Combs Matrix. Das ergibt für mich leider wenig Sinn. Mystiker sprechen davon, dass ab Stufe 3 (Kontemplation) vorgefasste, rationale Gottesbilder aufgegeben werden müssen. Das würde bedeuten, dass sich auch die Stufen von Gott 9.0 auflösen. Der Zustand “Verklärung” entspricht dabei der Vereinigung mit Gott. Wie stellt sich Wilber das auf Stufe PURPUR genau vor? Die Vereinigung löst sich auf, der Mystiker steht auf, vergisst alles und geht am Lagerfeuer trommeln, um gute Geister zu beschwören?
Ich glaube, dass die Reise nach innen, d.h. in Richtung der tieferen Zustände, die entscheidende ist. Es ist wichtiger, nach innen zu gehen als die Stufen zu erklimmen. Höhere Stufen können allenfalls ein Nebenprodukt der inneren Reise sein.
Türkis hebt ab
Auf Stufe 8.0 (TÜRKIS) wird reichlich aufgetischt. Dem Leser wird eine grosse Ladung dessen präsentiert, was bei Kritikern den Begriff “New Age” triggert:
Panpsychismus: “In jedem Element des Universums steckt ein Stück Bewusstsein”. Das bedeutet, dass auch die Moleküle unseres Körpers ein bisschen bewusst sind. Im Blog zu Nahtoderfahrungen habe ich bereits erläutert, warum mich das nicht überzeugt.
Panentheismus: Die Welt ist in Gott enthalten. Es gibt keine Trennung von Schöpfung und Schöpfer. Jeder Stein, den wir betrachten ist (Teil von) Gott.
Prozesstheologie: Die Welt wurde nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern entsteht ständig neu in einem fortlaufenden Prozess. Da das Universum ein Teil Gottes ist (Panentheismus), entwickelt sich auch Gott zusammen mit seiner Schöpfung weiter. Die Evolution ist dabei treibende Kraft. Gott ist nicht mehr im eigentlichen Sinn allmächtig. Der Gang der Welt wird mitbestimmt durch Individuen mit freiem Willen.
Es gab noch eine weitere Überraschung. Der Berg hatte keinen Gipfel. […] Manchmal lichteten sich die dichten Wolken, einige konnten ein paar Meter weiter vorrücken nach oben. Schliesslich verstanden einige das KORALLENE Geheimnis, das sich ihnen da offenbarte: Der Berg wuchs mit jedem Aufstieg weiter.
Die Parabel vom Gottesberg, Gott 9.0 (S.228)
… dann ist einzig “real” nur der Geist: der Geist des Wahrnehmenden ebenso wie der Geist in Form der fliessenden Bewegungsmuster und Felder, die der Wahrnehmende als “Welt” interpretiert.
Gott 9.0 (S. 211)
Cyborg-Gläubige: Ein Hauch von Science Fiction weht durch das Buch, wenn es von “übersummativer Intelligenz” spricht, welche entsteht, wenn der Mensch sich mit Technologie verbindet. Wie einzelne Neuronen im Gehirn könnten sich Individuen über das Internet zu einem “Superorganismus” zusammenschliessen:
Der belgische Kybernetiker Francis Heylighen betrachtet (wie viele seiner Kollegen) das Internet und seine Nutzer als einen Superorganismus, der wie ein Ameisenstaat eine übergeordnete Intelligenz entwickeln könnte.
Gott 9.0 (S. 198)
Das ist mir alles zu viel und es hat sehr wenig mit meinem Gottesbild zu tun. Die Autoren würden darauf wohl augenzwinkernd erwidern: “NOCH nicht!” Erlöst sich der Mensch also mithilfe der Evolution selbst, indem er sich zu einem gottähnlichen hyperintelligenten Superorganismus weiterentwickelt?
Wilber schätzt den Anteil der Weltbevölkerung auf Stufe GELB auf lediglich 1 %. Bei TÜRKIS dürfte der Anteil noch weit darunter liegen. Beiläufig wird erwähnt, dass TÜRKIS noch im Fluss sei, es also noch gar nicht fertig ausgebildet sei. Das TÜRKISE, reichlich esoterische Weltbild ist also weniger Beobachtung als vielmehr wilde Spekulation, die dem Wunschbild der Autoren entspringt.
Features
Nebst den Bugs hat das Buch auch interessante Features. Hier gilt im Besonderen: “Prüfet alles und behaltet das Gute.” (1. Thessalonicher 5,21).
Gute Zusammenfassung von Ken Wilbers Weltsicht
Die integrale Theorie des praktizierenden Buddhisten Ken Wilber beeinflusst viele progressive Christen. Gerade auch bei Richard Rohr, dessen Bücher mich sehr ansprechen, hört man immer wieder Begriffe, die aus Wilbers Theorien stammen. Rohr hat sogar das Vorwort zu Gott 9.0 geschrieben. Aber auch Thomas Keating, der grosse Lehrer der Kontemplation im 20. Jahrhundert, pflegte gute Beziehungen zu Ken Wilber.
Es ist gut zu wissen, was die eigenen Vorbilder glauben. Insofern ist es ein ausgezeichnetes Feature von Gott 9.0, dass die Weltsicht von Ken Wilber übersichtlich erklärt wird. Man versteht plötzlich Spiral Dynamics, die Stufen, die Zustände, die Wilber-Combs Matrix, die Linien, die drei Gesichter Gottes und die Quadranten. Und damit kriegt man auch eine Ahnung von AQAL (“All Quadrants All Levels”), dem grundlegenden Framework der integralen Theorie.
Glaube ist dynamisch
Dieser Blog besteht bloss aus einem Grund: Weil sich meine Sicht auf den Glauben und auch mein Gottesbild über die Jahre wesentlich verändert hat. Früher hielt ich meinen Glauben für etwas Statisches. Man konnte hier und da etwas optimieren, einen Workshop besuchen, den Fokus neu legen, die Hingabe erneuern. Aber im grossen Ganzen waren die Glaubenssätze definiert und bekannt.
Dann kam die Krise. Zuweilen fühlte sich das tatsächlich so an als sei Gott gestorben. Und mit ihm gleich das Fundament meines Lebens. Doch überraschenderweise ging es nach der Krise weiter. Vieles hatte sich geändert. Tatsächlich starb nur mein altes Gottesbild und damit auch die Art wie ich mit Gott in Beziehung zu treten pflegte.
Zweifeln löst Sie heraus aus den Grenzen einer überholten Bewusstseinsstufe.
Gott 9.0 (S. 18)
Die grundsätzliche Bejahung von Veränderungen im eigenen Denk- und Glaubensgebäude ist ein starkes Feature von Gott 9.0. Gläubige in Krisen werden ernst genommen. Ihnen wird aufgezeigt, dass das nicht das Ende ist. Eine Raupe, die sich verpuppt, erstarrt und wird bewegungslos. Ein naiver Beobachter könnte schliessen, die Raupe sei gestorben. Doch in ihrem Inneren vollzieht sich ein Wunder: die Metamorphose des Alten hin zu etwas Neuem.
Der Kriegsgott Jahwe
Viele Menschen haben verständlicherweise Mühe damit, den Kriegsgott Jahwe mit dem Vater Jesu im Neuen Testament in Einklang zu bringen.
Viele moderne Menschen erschrecken, wenn sie auf diese Bewusstseinsschicht in der Bibel stossen. Sie begegnen einem grausamen, gnadenlosen, egozentrischen Machtgott, mit dem sie nichts zu tun haben wollen – und auch nichts zu tun haben, weil sich unsere Gottesvorstellungen weiterentwickelt haben. Wer die Kriegsberichte der Bibel liest, muss sich klarmachen, dass diese Geschichten in der gleichen Zeit entstanden sind wie die Ilias, Homers grosses Epos voller Blut, Gewalt, Kriegslisten und kaltblütig-arroganter Helden.
Gott 9.0 (S. 80)
Die Schilderung der Stufe ROT hilft mir, die vielen Kriegsberichte im Alten Testament besser einzuordnen. Wirklich auflösen lässt sich der Konflikt allerdings erst auf Stufe ORANGE, da bei BLAU noch ein wörtliches Schriftverständnis vorherrscht. Die Bewusstseinsstufe der biblischen Autoren kann erst dann als mitbestimmender Faktor in die Schilderungen der Bibel einbezogen werden, wenn nicht jeder Satz als direkte und wörtliche Äusserung Gottes verstanden wird.
Auch bei den Autoren der Bibel hat sich das Bild Gottes über die Jahrhunderte gewandelt. Dinge, die man früher Gott zugeschrieben hat, können später im Extremfall gar dem Satan zugeschrieben werden. Ein Beispiel hierzu ist die Volkszählung Davids.
Fundamentalismus und die Autorität der Bibel
Der Übergang BLAU/ORANGE trifft einen Nerv
Nach Schätzung der Autoren lebt gegenwärtig etwa die Hälfte der Weltbevölkerung auf Stufe BLAU. BLAU polarisiert und denkt in Schwarz-weiss Mustern. Jemand ist für oder gegen uns. Feste Strukturen, exakte Fahrpläne und klare Konsequenzen herrschen vor. Blaue Religion orientiert sich an “heiligen Büchern”, die direkt von Gott eingegeben wurden.
Für einen evangelikalen oder fundamentalistischen Christen ist jeder Satz in der Bibel Gottes Wort. Die Bibel ist oberste Autorität und alles darin ist wörtlich zu nehmen.
Gott 9.0 zu Stufe BLAU (S. 97)
BLAU hat ein starkes Gerechtigkeitsbedürfnis. Jesus sitzt am Ende aller Zeiten als Weltenrichter auf dem Thron. Er trennt die Spreu vom Weizen. Die Gerechten und Treuen erhalten das Heil, während die anderen Höllenqualen erleiden müssen.
Stufe ORANGE stellt den Verstand in den Vordergrund und setzt darum auch vermehrt wissenschaftliche Masstäbe bei der Interpretation der Bibel an. Was mit der Reformation begann, setzt sich heute in der modernen Bibelwissenschaft fort. Das Buch trifft hier tatsächlich einen Nerv des heutigen Christentums. Während die Theologie sich längst von der BLAUEN Stufe verabschiedet hat, befinden sich die Gläubigen irgendwo in der Schwebe zwischen BLAU und ORANGE und leiden an den Widersprüchen. Der grosse Erfolg von Worthaus ist ein Symptom dieses Leidens. Der gemeinnützige Verein versucht die BLAU/ORANGE Schlucht zu überbrücken und kommt den Menschen auf ihrem Weg entgegen.
Was mich überraschte, war die Kombination von Rationalität und einer mystischen Sehnsucht nach Gott auf Stufe ORANGE. Ich habe dies ähnlich erlebt, dachte aber lange, dass das eine eher schräge und sogar etwas widersprüchliche Kombination sei. Gerade wer sich auf seine Ratio verlässt, sollte doch Intuitionen und subjektiven Erfahrungen gegenüber skeptisch sein? Die Art und Weise wie die Autoren diesen Zusammenhang beschreiben erscheint mir jedoch durchaus logisch. Gott wird im Aussen nicht mehr gefunden, er ist mit dem Verstand nicht zu erfassen. Deshalb wird er zu einem verborgenen Gott, der im Innern gesucht werden muss. Das mythische Gottesbild der Stufe BLAU wird durch das mystische der Stufe ORANGE ersetzt.
ORANGE Rationalität gepaart mit Mystik führt zu spiritueller Eigenständigkeit und einer neuartigen geistigen Toleranz.
Gott 9.0 (S. 127)
Wird dieser Weg ins “verborgene Herz” hinein nicht gewiesen, kann das ORANGE Lebensgefühl in einen Sinnmangel oder existenzielle Frustration geraten.
Gott 9.0 (S. 125)
Die präzise Analyse des Übergangs zwischen BLAU und ORANGE ist für mich das Killerfeature von Gott 9.0 schlechthin! Es hat mir die Augen geöffnet für vieles, das ich selbst durchgemacht hatte. Ich verstehe jetzt besser, wie einige Puzzleteile der letzten Jahre zusammenpassen:
- die Abwendung vom strafenden Gottesbild
- der Wunsch nach Wissenschaft und Glaube im Einklang
- ein nicht-fundamentalistisches Bibelverständnis
- ein erwachtes Interesse an Mystik
Interreligiöser Dialog
Die Mystiker aller Religionen sind einander näher, als sich ein Mystiker und ein fundamentalistischer Anhänger der orthodoxen Lehre innerhalb derselben Religion sein können.
Gott 9.0 (S. 180)
Dieser Aussage, wonach sich die Mystiker der verschiedenen Religionen sehr nahe sein können, würde ich zustimmen. Das ist ein spannender Anknüpfungspunkt für interreligiösen Dialog.
In meinem Blog zur ewigen Philosophie komme ich zum Schluss, dass im Christentum der Grundsatz gelte: “Wir sind nicht Gott”, während im Gegensatz dazu im Buddhismus atman (das ewige Selbst) und brahman (der Urgrund) letztlich dasselbe sind. Diesen Umstand bringt Wilber mit den drei Gesichtern Gottes auf den Punkt:
- Das dritte Gesicht Gottes: Das grosse unpersönliche “Es”
- Das zweite Gesicht Gottes: Das göttliche “Du”
- Das erste Gesicht Gottes: Das göttliche “Ich”
Bei der Auflösung des Selbst wird im Buddhismus und Hinduismus das erste Gesicht Gottes sichtbar: “Ich bin Gott”. Dies klingt für christliche Ohren blasphemisch. Christliche Mystiker, die zu nahe an diese Aussage kamen, bekamen es mit der Inquisition zu tun. Das zweite Gesicht, das göttliche “Du”, ist dabei die traditionelle Sichtweise der monotheistischen Religionen. Hier hat offenbar auch bei Ken Wilber ein Umdenken stattgefunden, der das Christentum mittlerweile ernst zu nehmen scheint und nicht mehr als Religion “zweiter Klasse” behandelt.
Die monotheistischen Religionen verwarfen Berichte über Erfahrungen des ersten Gesichtes Gottes als Gotteslästerung und fixierten sich auf das zweite Gesicht Gottes. In den östlichen Religionen betonte man dagegen das erste Gesicht und neigte dazu, eine personale Erfahrung Gottes völlig zu leugnen. Man betrachtete jeweils die andere Religion als defizitär, ohne zu bemerken, dass die eigene Verneinung eines der drei Gesichter Gottes zu einer Beschneidung und Verarmung, ja sogar Unterdrückung der eigenen spirituellen Tradition führten.
Gott 9.0 (S. 274)
Fazit
Das Buch ist kein wissenschaftliches Werk. Entsprechend sind die vorgestellten Modelle mit Vorsicht zu geniessen. Dennoch überzeugen mich die Stufen ROT, BLAU und ORANGE, weil sie mir dabei helfen, eigene Erlebnisse auch retrospektiv besser zu verstehen. Ob es alle 9 Stufen in der beschriebenen ausgeprägten Form gibt, wage ich zu bezweifeln. TÜRKIS ist definitiv zu abgehoben, esoterisch durchtränkt und hochgradig spekulativ.
Mit seinem Credo, dass sich unser Gottesbild weiterentwickelt, kommt das Buch Gläubigen in Krisen unterstützend und wertschätzend entgegen. Gerade für den schwierigen Übergang von BLAU zu ORANGE bietet das Buch viele wertvolle Einsichten. Hier sollte sich das Christentum bewusster um die vielen Gläubigen kümmern, die den Spagat zwischen Verstand und mythischem Gottesbild nicht länger hinbekommen. Ein grosser Pluspunkt ist auch der grosse Stellenwert, welcher der christlichen Mystik in den Stufen und Zuständen beigemessen wird.
Ich empfehle das Buch jedem, der bereits einmal das Gefühl hatte, sein Gott sei “gestorben”. Dann hat er höchstwahrscheinlich ein Versionsupdate seines Gottesbildes erfahren. Zweifel und Krisen können ein Anzeichen für ein anstehendes Update sein. Dann möchte ich Mut machen, dranzubleiben und Gott weiterzusuchen: Das ist noch nicht das Ende!


3 Comments
Andreas Egger
Hallo Bravesoul, vielen Dank für diese differenzierte und persönliche Rezension. Mir fehlt die Kompetenz um die Wissenschaftlichkeit von Spiral Dynamics zu beurteilen. Offensichtlich basiert das Modell auf verschiedenen psychologischen und soziologischen Entwicklungsmodellen, die einzeln für sich validiert wurden und im Grossen und Ganzen übereinstimmen. Auf jeden Fall ist es trotz seiner Komplexität nur ein Modell und nicht die Wirklichkeit selbst. Das scheinen manche Autoren von Blogs und Facebook – Post zu vergessen. Manche Personen, die sich bei gelb und höher verorten, wirken auf mich elitär, was das ganze nicht so sympathisch macht.
Auf der anderen Seite haben ich mich, wie du, beim Wechsel von blau nach orange und höher verstanden gefühlt und meine Entwicklung besser bejahen können. Gott 9.0 hat mir geholfen die Diskrepanz zwischen meinem Alltag im Beruf im Gesundheistwesen, wo ich “orange, grün gelb” unterwegs bin zu verstehen und dem Sonntagmorgen, wo ich mit der blauen Wertewelt nicht mehr in allem übereinstimmen kann. Wie sieht nun mein Glaube bei grün/gelb aus? Wie passe ich noch zu der blauen Gruppe, mit deren Mitglieder mich Familienbande und eine gemeinsame Lebensstrecke verbinden? Mir scheint es wichtig zu akzeptieren, dass alle Farben (Wertesysteme), die wir durchlaufen haben, in uns sind. Wir können sie begrüssen oder ablehnen. Wir gewinnen ,wenn wir, alte Anteile integrieren und je nach Lebenszusammenhang bewusst ausleben oder auch nicht.
bravesoul
Danke für deinen Kommentar.
Ich habe gerade gesehen, dass ihr meinen Blog auch auf der Facebookseite von Gott 9.0 diskutiert: Link zur Diskussion
Cool, danke für´s posten!
Hans-Josef Kelter
Hallo
Ich habe deinen Artikel mit großem Interesse gelesen.
Im letzten Teil teilst du die Schlussfolgerung, dass im Christentum der Grundsatz gelte, “Wir sind nicht Gott”!
Dieses Dogma geistert im christlichen Selbstverständnis zwar herum, aber es widerspricht den Worten Jesu, der in seiner Weihnachtspredigt (das jüdische Chanukka) im Tempel zum Volk spricht “Ich habe gesagt: Ihr seid Götter!”.
Joh. 10, 34 ff
Jesus zitiert hier den Psalm 82,6
“Ich habe gesagt : Ihr seid Götter! Ihr alle seid Söhne des Höchsten!”
Ich habe noch keinen christlichen Gottesdienst erlebt in dem über diese Worte Jesu gesprochen wurde.
Die Zeilen davor wo von uns als Schafen gesprochen wird, deren Hirte Jesus ist, werden jedes Jahr am Sonntag des Guten Hirten gepredigt.
Aber dass Jesus sagt, dass wir Söhne (und Töchter) Gottes sind GLEICH WIE ER, dass wird in den meisten Bekenntnissen ignoriert oder gar als Blasphemie angesehen.
Aber was heisst es eigentlich ein “Kind Gottes” zu sein.
Bedeutet das nicht, dass wir eines Wesens mit Gott sind… ihm gleich… nur noch nicht ganz entwickelt…
Jesus ist gekommen um uns zur bewussten Gotteskindschaft zu erheben, damit wir – gleich wie er –
Gottes Söhne und Töchter – mit ihm und mit Gott Eins sind.